Teil IX der Interviewreihe: 25 Jahre Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. (1995–2020)
Daniel R. Bonenkamp/Takuma Melber
Interview
Veröffentlicht am: 
10. Mai 2021

Seit 2013 leitet Dr. Christian Westerhoff die Bibliothek für Zeitgeschichte (BfZ),1 nachdem er zuvor als Koordinator des DFG-Projekts „1914-1918-Online. International Encyclopedia of the First World War“2 tätig war. Seit Jahren arbeitet die BfZ eng mit dem Arbeitskreis Militärgeschichte zusammen. Auf den Seiten des Portal Militärgeschichte wurde einige lesenswerte Beiträge veröffentlicht, in denen auf die militärhistorisch relevanten Bestände und Aktivitäten der BfZ hingewiesen wurde. Anlässlich des 25-jährigen AKM-Jubiläums hat die Redaktion mit Dr. Christian Westerhoff ein Interview geführt.

Lieber Herr Dr. Westerhoff, Sie sind Leiter der Bibliothek für Zeitgeschichte (BfZ) der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Ein besonderer Schwerpunkt der Sammlung der BfZ liegt auf Militärgeschichte, welche ja die Nachfolgeinstitution der 1915 gegründeten „Weltkriegsbücherei“ ist. Was waren grob skizziert die großen Wegmarken in der BfZ-Historie?

Westerhoff: Die BfZ war zunächst eine der zahlreichen Kriegssammlungen, die es sich zur Aufgabe machten, den Ersten Weltkrieg möglichst umfassend zu dokumentieren. Aus der 1915 vom Unternehmer Richard Franck gegründeten Privatsammlung ging die „Weltkriegsbücherei“ hervor, die 1921 in Stuttgart ihre Pforten für die Öffentlichkeit öffnete. Aufgrund ihrer internationalen Bestände entwickelte sie sich bald zu einer bedeutenden Forschungsstätte zu Ursachen, Verlauf und Folgen des Ersten Weltkriegs. 1939 begann die Weltkriegsbücherei, auch den Zweiten Weltkrieg umfassend zu dokumentieren. Fünf Jahre später ging bei einem Bombenangriff etwa ein Drittel aller Bestände verloren, das Bibliotheksgebäude brannte aus.
Dennoch wagte man nach 1945 einen schwierigen, aber erfolgreichen Neubeginn. Im Kontext des Kalten Krieges entstand ab 1959 das heutige Marine-Archiv. Als Reaktion auf die Studentenrevolte wurde 1972 die Sammlung Neue Soziale Bewegungen eingerichtet. 1990 wurde schließlich mit dem Aufbau einer umfangreichen Sammlung von Feldpost und Tagebüchern beider Weltkriege begonnen. Außerdem gab die Bibliothek selbst zahlreiche Publikationen heraus, die neue Forschungsergebnisse zur Neueren Kulturgeschichte des Krieges vorlegten und der Wissenschaft wichtige Nachschlagewerke bereitstellten. Im Jahr 2000 wurde die BfZ zu einer Abteilung der Württembergischen Landesbibliothek. Heute ist die 1948 in Bibliothek für Zeitgeschichte umbenannte Institution eine der größten Spezialbibliotheken zu Politik und Geschichte seit 1914 in Europa mit einem Schwerpunkt auf Militärgeschichte.

 

Was sind die besonderen Schwerpunkte, sozusagen die „Filetstücke“ der militärgeschichtlichen Sammlung der BfZ?

Westerhoff: Die Bibliothek sammelt von Beginn an systematisch Literatur und Sondermaterialien zum Ersten und Zweiten Weltkrieg aus dem In- und Ausland. Die mehrsprachigen Bestände unterschiedlichster Provenienz vermitteln multiple Perspektiven auf die Kriege des 20. Jahrhunderts. So ist eine einmalige Sammlung entstanden, die besonders durch ihren internationalen Charakter hervorsticht. Der Buchbestand beschränkt sich jedoch nicht auf die Weltkriege, sondern umfasst auch die Themenbereiche Krisen und Konflikte seit 1914, Völkermorde, Außen- und Sicherheitspolitik sowie Militärwissenschaften.
Die meisten Besucher kommen allerdings wegen der umfangreichen Bestände an Sondermaterialien nach Stuttgart. Hierzu zählen Fotos, Plakate, Flugblätter, Broschüren, Zeitungen und Zeitschriften, Postkarten, Land- und Seekarten und vieles mehr zu den Weltkriegen, zur Zwischenkriegszeit sowie zur Nachkriegszeit.
Im besonderen Fokus der Forschung steht seit Jahren die Lebensdokumentensammlung, die Tagebücher, private Fotoalben sowie die größte Feldpostsammlung Deutschlands enthält. Diese Materialien sind zum Teil inhaltlich erschlossen, was die Beantwortung gezielter Anfragen möglich macht. Zum Teil existieren auch Abschriften und Register, wie zum Beispiel bei Feldpostsammlungen, was die Benutzung natürlich sehr erleichtert.

 

Zu den Sondersammelgebieten der Bibliothek für Zeitgeschichte gehört das bereits erwähnte Marinearchiv. Das mag bei einem in Stuttgart und damit fern der Meere befindlichen Institut überraschen. Woher stammt diese Fokussierung auf die Geschichte der Deutschen Marine und was sind die Besonderheiten des Marinearchivs?

Westerhoff: Verantwortlich hierfür ist Jürgen Rohwer, der Direktor der BfZ in den Jahren 1959 bis 1989 war. Während des Zweiten Weltkriegs diente er in der Kriegsmarine. Nach 1945 kam er mit dem Naval Historical Team sowie Befehlshabern und Kommandeuren der Bundesmarine in Kontakt. Seit 1958 war er Schriftleiter beziehungsweise Chefredakteur der „Marine-Rundschau“. Diese einflussreiche Zeitschrift war reichhaltig mit Fotos ausgestattet. Werften, Reedereien und Marinepressedienste versorgten Rohwer mit Bildmaterial, mit dem in der BfZ eine umfangreiche Fotosammlung aufgebaut wurde. Nach und nach wurden auch Privatbestände von Sammlern übernommen, sodass ein Archiv von mehreren hunderttausend Schiffsfotos für den Zeitraum von 1850 bis 1990 entstand – die wahrscheinlich weltweit größte Sammlung dieser Art. Hinzu kommen eine marinegeschichtliche Dokumentensammlung und einige Anschauungsobjekte – so etwa ein Exemplar der im Zweiten Weltkrieg verwendeten Chiffriermaschine Enigma. Wichtige Quellen zum U-Bootkrieg bilden außerdem Dokumentationen wie die Chronik des Seekrieges 1939-1945.3 Zum Bestand der BfZ zählt übrigens auch der Nachkriegs-Nachlass von Karl Dönitz, mit dem Rohwer befreundet war.

 

Inwiefern werden sich die Sammlung der BfZ und ihre Schwerpunkte in den kommenden Jahren verändern?

Westerhoff: Die zentrale Veränderung stellt für die BfZ wie für andere Bibliotheken und Archive die Digitalisierung dar. Studierende und Promovierende suchen heute vor allem online nach Quellen; erst wenn sie dort nicht ausreichend fündig werden, kommen sie ins Archiv. Dadurch gibt es heute weniger Nutzung vor Ort und die Bedeutung digital angebotener Bestände hat stark zugenommen. Für die Nutzer stellt die digitale Präsentation von Quellen, die jederzeit und von überall abrufbar sind, natürlich einen großen Vorteil dar, zumal wenn diese auch heruntergeladen werden können und Volltext-Recherchen möglich sind. Die Bibliotheken und Archive stellt diese Entwicklung jedoch mit Blick auf die Mengen an vorhandenen Quellen, ihre Heterogenität und insbesondere das Urheberrecht vor große Herausforderungen.
Mit dem Themenportal Erster Weltkrieg,4 das den Zugriff auf digitalisierte Plakate, Tagebücher, zeitgenössische Literatur und mehr als 300 Truppengeschichten des Ersten Weltkriegs erlaubt, haben wir begonnen, uns dieser Herausforderung zu stellen. Als nächstes wollen wir mittels einer Bild-Datenbank unsere marinegeschichtliche Sammlung von Schiffsfotos digital zur Verfügung stellen. 170.000 Fotos sind bereits digitalisiert. Außerdem denken wir darüber nach, zukünftig Volltexte mit erweiterten Suchmöglichkeiten anzubieten. Und schließlich wollen wir uns wieder stärker unserer Sammlung Neue Soziale Bewegungen widmen, die mit Blick auf die Militärgeschichte vor allem wegen der vielen Plakate und Flugblätter zur Friedensbewegung interessant ist. Die bestehenden Bestände sollen besser erschlossen und – sofern das Urheberrecht dies zulässt – digitalisiert werden. Auch eine Wiederaufnahme der Sammeltätigkeit zu Protestbewegungen ist angedacht.

 

Seit 2013 ist die Bibliothek für Zeitgeschichte auch institutionelles Mitglied des AKM. Warum hat sich die BfZ zu dieser institutionellen Mitgliedschaft im Jahr 2013 entschlossen? Welche Intentionen waren damit verbunden?

Westerhoff: Unser Ziel war es, Forschung und Bibliothek zusammenzubringen: Wir wollen die Wissenschaft über die Schätze in unseren Beständen informieren. Gleichzeitig war es uns ein Anliegen, uns über Entwicklungen in der Forschung auf dem Laufenden zu halten und auf geänderte Nutzerinteressen zu reagieren.

 

Zum 1. März 2013 haben Sie die Leitung der BfZ übernommen. Was hat sich in Bezug auf Militärgeschichte und militärgeschichtliche Themen seitdem in der BfZ verändert?

Westerhoff: 2013/2014 kam es auch in Deutschland zu einem stärkeren Interesse breiterer Kreise an der Weltkriegsforschung – Stichwort „100 Jahre Erster Weltkrieg“. Dadurch erweiterten sich in den Folgejahren auch in der BfZ die Forschungsthemen spürbar in Richtung Regional- und Mikrogeschichte. Die Ego-Dokumente zum Ersten wie zum Zweiten Weltkrieg werden nach wie vor als Fundgrube der Alltagsgeschichte sowie für mentalitätsgeschichtliche Themenstellungen nachgefragt. Mit einer verstärkten Digitalisierung der Bestände der BfZ sowie zahlreichen Veranstaltungen, Publikationen und Ausstellungen habe ich versucht, diese Trends aufzugreifen und den Interessen der Forschung zu begegnen.5

 

Hat sich aus Ihrer Sicht das Standing von „Militärgeschichte“ und militärgeschichtlichen Themen in Deutschland in den letzten Jahren verändert? Und wenn ja, ist dies auch an und in der BfZ sicht- und spürbar, beispielsweise anhand der Nutzung der BfZ, ihrer Sammlungsschwerpunkte und/oder anderer Faktoren?

Westerhoff: Als Fachreferent für Zeitgeschichte in einer Spezialbibliothek zu Kriegen und Konflikten des 20. Jahrhunderts fällt mir auf, dass sich die Neuere Kulturgeschichte des Krieges in Deutschland etabliert hat. Entsprechende Titel, insbesondere zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, erscheinen in großer Zahl. Viele Bücher behandeln aber weniger das „Kerngeschäft des Krieges“, wie Gerhard P. Groß es einmal auf einer Tagung genannt hat, sondern eher Seiten- beziehungsweise Spezialaspekte. Militärgeschichte im engeren Sinne, also Operationsgeschichte, wird heute wissenschaftlich in Deutschland eigentlich nur noch vom ZMSBw betrieben. Ganz anders sieht dies im anglo-amerikanischen Raum aus, weswegen ich vielfach auf englische Titel zurückgreifen muss, um zu bestimmten Themen überhaupt Literatur anbieten zu können. Dies ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass Deutschland – auch im Bereich der Forschung – ein militärkritisches Land ist, während in den USA und in Großbritannien eine wesentlich positivere Einstellung zum Militär vorherrscht.

 

Was dürfen die AKM-Mitglieder im Allgemeinen sowie die Leser*innen des Portals Militärgeschichte im Speziellen von der Zusammenarbeit zwischen AKM und BfZ in naher und/oder ferner Zukunft erwarten?

Westerhoff: Reizvoll fände ich es, weitere Beiträge zu unseren Sammlungen auf dem Portal zu veröffentlichen, die über den bisherigen Schwerpunkt Erster Weltkrieg hinausweisen, beispielsweise zum Marinearchiv, zu unserer Plakatsammlung oder zu unseren umfangreichen Beständen zum Zweiten Weltkrieg. Auch über bedeutende Neuanschaffungen, Services und Aktivitäten würde ich gerne informieren. So zeichnet die BfZ zum Beispiel ihre Veranstaltungen seit Anfang 2020 auf und stellt sie auf dem Wissenschaftsportal L.I.S.A. der Gerda-Henkel-Stiftung online.6 Hier werden immer wieder auch militärhistorische Themen behandelt, so etwa die Vorstellung des Buches „Deutsche Krieger“ von Sönke Neitzel.7
Darüber hinaus würde es mich freuen, wenn es einen vertieften Austausch mit dem AKM darüber geben könnte, in welche Richtung sich die Sammeltätigkeit und die Services der BfZ in Zukunft entwickeln sollten. Welche Quellenbestände sind für die militärgeschichtliche Forschung von besonderem Interesse, welche eher weniger? Welche Bestände sollten vorrangig digitalisiert werden? Ich finde es sehr wichtig, dass Bibliotheken und Archive nicht einfach vor sich hin sammeln und nach eigenem Gusto Digitalisate erstellen, ohne sich mit der Wissenschaft abzustimmen. Es böte sich eine einmalige Chance für Historikerinnen und Historiker des AKM, ihre Vorstellungen einfließen zu lassen. Denkbar wäre zur Umsetzung ein Workshop oder eine Umfrage. Selbstverständlich könnten auch Führungen durch die Bestände angeboten werden.

 

Was sind Ihre Hoffnungen, Wünsche oder Erwartungen für die nächsten 25 Jahre AKM?

Westerhoff: Mit Blick auf den schweren Stand, den die Militärgeschichte in Deutschland hat, finde ich es ungemein wichtig, dass es den AKM gibt. Als Informationsquelle und vor allem als Forum zum Austausch über militärgeschichtliche Themen spielt er eine ganz zentrale Rolle. Insofern hoffe ich, dass der AKM seine Arbeit auch in den nächsten 25 Jahren ungemindert fortsetzt, Forschungsfragen diskutiert, Debatten anstößt und Nachwuchswissenschaftler unterstützt. Persönlich würde es mich sehr freuen, wenn die Vernetzung mit Archiven und Bibliotheken ausgebaut wird.

Zitierempfehlung: Daniel R. Bonenkamp/Takuma Melber, Interview mit Dr. Christian Westerhoff. Teil IX der Interviewreihe: 25 Jahre Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. (1995–2020), in: Portal Militärgeschichte, 10. Mai2021, URL: http://portal-militaergeschichte.de/bonenkamp/melber_interview_westerhoff (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

 

Zur Übersicht über die Interviewreihe "25 Jahre Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. (1995-2020)" (Link).

  • 1. https://www.wlb-stuttgart.de/sammlungen/bibliothek-fuer-zeitgeschichte/
  • 2. http://www.1914-1918-online.net/
  • 3. Online-Ausgabe 2007: https://www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/chronik.htm
  • 4. https://www.wlb-stuttgart.de/sammlungen/bibliothek-fuer-zeitgeschichte/themenportal-erster-weltkrieg/
  • 5. Siehe dazu auch http://portal-militaergeschichte.de/westerhoff_regimentsgeschichten
  • 6. https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/dossier_bfz_stuttgart
  • 7. http://portal-militaergeschichte.de/westerhoff_vortraege