Interview
Veröffentlicht am: 
26. Oktober 2015
DOI: 
10.15500/akm.16.10.2015

PM: Sehr geehrter Herr Prof. Neitzel, Sie wechseln zum Wintersemester 2015/16 von der London School of Economics and Political Science (LSE) an die Universität Potsdam und treten dort am Historischen Institut die Professor für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an. Welche Gründe sprachen für einen Wechsel in die Region Berlin-Brandenburg?

Neitzel: Berlin-Brandenburg ist eine der interessantesten Wissenschaftsregionen Europas. Die Dichte von Universitäten und Forschungsinstituten ist wirklich beeindruckend. Zudem sind Berlin und Potsdam sehr lebenswerte Städte, in denen es nicht ganz so hektisch zugeht wie in London. Und ich darf nicht verhehlen, dass private Gründe beim Wechsel eine wichtige Rolle gespielt haben. Meine Frau lebt ja seit 2009 in Berlin.

PM: Sie haben von 2011 bis 2015 in Großbritannien geforscht und gelehrt. Welchen Stellenwert hat die Militärgeschichte dort in den Universitäten - vor allem im Vergleich zu Deutschland?

Neitzel: Militärgeschichte gehört an britischen Universitäten eigentlich ganz selbstverständlich zu Forschung und Lehre dazu, auch wenn dies von Ort zu Ort durchaus unterschiedlich betrieben wird. Die Briten tun sich mit dem Thema einfach sehr viel leichter als die Deutschen - auch weil die Relevanz einer akademischen Auseinandersetzung von niemandem in Zweifel gezogen und angesichts heutiger Krisen und Konflikte mehr denn je eingefordert wird. Institutionell führend ist natürlich das Kings College, das ein ganzes Department for War Studies aufgebaut hat. Der Lehrstuhl History of War in Oxford ist zu nennen und natürlich die LSE. Aber auch an anderen Universitäten wird dezidiert Militärgeschichte betrieben: Cambridge, University College London, Glasgow, Birmingham, Leeds, Exeter - man könnte etliche weitere nennen. Im internationalen Vergleich hat Großbritannien sicher die lebhafteste und produktivste militärhistorische akademische Szene, die selbst die USA in den Schatten stellt. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass sehr viele deutsche Historiker, die sich für die eine oder andere Form der Militärgeschichte interessieren, in das Vereinigte Königreich gehen.

PM: In Großbritannien arbeiten wesentlich mehr internationale Geschichtswissenschaftler als in Deutschland. Welche Auswirkungen hat das für das Arbeitsklima an den Universitäten?

Neitzel: Die Internationalität des Kollegiums ist sicher eine der großen Vorteile britischer Universitäten. An der LSE waren wir im Department of International History 28 Kolleginnen und Kollegen aus zehn Nationen. Dies ist sicher auch für britische Verhältnisse außergewöhnlich. Diese Zusammensetzung trug freilich zu einer sehr offenen, liberalen und im besten Sinne weltoffenen Arbeitsatmosphäre bei. Noch wichtiger ist vielleicht die Department-Struktur britischer Universitäten, an denen die Lehrstühle längst nicht die Rolle spielen wie in Deutschland. Es geht doch erheblich demokratischer zu und alle begreifen sich mehr als ein Team.

PM: Haben ihre britischen Erfahrungen Einfluss auf Ihr Verständnis von Militärgeschichte?

Neitzel: Ich habe die britische Wissenschaftslandschaft als unglaublich offen erlebt, wenig dogmatisch und immer bereit, um das Argument zu ringen. Auch die Militärgeschichte wird dort so betrieben. In Deutschland ist man sicher viel befangener, viel vorsichtiger mit neuen Thesen, erst recht wenn es um Krieg und Gewalt geht. Freilich: Die Wissenschaft muss ihre Erkenntnisse permanent in Frage stellen - nur dann kann man sich wirklich weiterentwickeln. Dass bedeutet ja nicht, alle fünf Jahre das Rad neu zu erfinden. Aber über das Rad neu nachzudenken, kann sicher nicht schaden. Ich will versuchen, möglichst viel von der intellektuellen Offenheit mit nach Deutschland zu bringen.

PM: Sie haben die einzige Professur zur Militärgeschichte in Deutschland inne. Sie werden sicherlich vonseiten der Universität, aber auch von Militärhistorikern mit hohen Erwartungen konfrontiert. Was sind ihre Pläne in Potsdam?

Neitzel: Mir ist zunächst die internationale Kooperation im Bereich der Lehre sehr wichtig. Länderübergreifende Forschungsnetzwerke gibt es ja etliche, nur in der Lehre steckt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit noch in den Kinderschuhen. Für die Militärgeschichte gibt es so etwas gar nicht und dies ist angesichts der zahlreichen War-Studies-Masterstudiengänge in Europa eigentlich erstaunlich. Ich führe gerade Gespräche mit der LSE und der Universität Amsterdam um einen zweijährigen internationalen Master for War & Conflict Studies aufzubauen. Man braucht da einen langen Atem, da der bürokratische Aufwand erheblich ist. Gleichwohl wird er sich lohnen, da wir über einen solchen Master die Lehre in Potsdam weiter internationalisieren können.

PM: Sind Kooperationen mit Partnern geplant? Zu denken ist natürlich an das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), aber auch an das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) und die Berliner Universitäten.

Neitzel: Im Bereich der Forschung geht es in der Tat zunächst darum, mit den Kolleginnen und Kollegen in Potsdam zu kooperieren. Das ZMSBw und das ZZF sind hier in erster Linie zu nennen und es wird sicher gemeinsame Projekte und Forschungsinitiativen geben. Darüber hinaus freue ich mich schon jetzt auf die Zusammenarbeit mit all jenen Kollegen an anderen Universitäten, die auch im Bereich der Militär- und Gewaltgeschichte arbeiten, etwa Oliver Janz von der Freien Universität Berlin, Martin Clauss von der Technischen Universität Chemnitz, Marian Füssel von der Georg-August-Universität Göttingen oder Oliver Stoll von der Universität Passau, um hier nur einige zu nennen.

PM: Sehen sie Chancen, die Militärgeschichte in Deutschland generell zu stärken? Oder denken Sie, dass sie ausreichend etabliert und konturiert ist?

Neitzel: Na ja, mit dem stärken ist es so eine Sache. Wenn es gelingt, die Bedeutung der Militärgeschichte auf dem erreichten Niveau zu halten, wäre sicher schon viel erreicht. Die Gründergeneration der „neuen" Militärgeschichte, also Jost Dülffer, Stig Förster, Bernd Greiner, Gerhard Hirschfeld, Bernhard Kroener, Gerd Krumeich, Dieter Langewische, Bernd Wegner und andere haben der Disziplin ja zu einem erheblichen Bedeutungszuwachs an deutschen Universitäten verholfen. Wenn man einmal zurückblickt so ist es schon beachtlich, welche Vielzahl an Publikationen, Tagungen und Lehrveranstaltungen es da gab. Auch der Boom des Arbeitskreises Militärgeschichte e.V. war ja ein Zeichen der Popularität der Militärgeschichte. Es ist nun an einer jüngeren Forschergeneration das Fach weiterzuentwickeln und die Militärgeschichte 3.0 zu etablieren. Ich bin eigentlich ganz hoffnungsvoll, dass dies gelingen wird. Das Interesse an der Militärgeschichte ist ja nach wie vor groß. Aber es wird schwierig sein, sie auf dem sehr hohen Niveau der vergangenen 15 bis 20 Jahre zu halten. Bei allem Optimismus dürfen wir nicht vergessen, dass die Vorbehalte nach wie vor erheblich sind.

PM: Die Denomination Ihres Lehrstuhls lautet „Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt" - ein weites Feld, wie man sagen könnte. Es umfasst zwei historische Subdisziplinen mit ganz unterschiedlichen Forschungsthemen und -ansätzen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die weit rezipierte Studie Timothy Snyders über die Gewalt in Ostmitteleuropa im Zeitalter der Weltkriege thematisiert keine Kriegshandlungen, sondern konzentriert sich auf asymmetrische Gewaltverhältnisse 1. Im Gegensatz dazu klammert die Militärgeschichte das Töten selbst oftmals aus.

Neitzel: Es geht ja gerade darum, das eine zu tun ohne das andere zu lassen. Insofern könnte die Denomination des Lehrstuhls gar nicht besser gewählt sein. Beide Subdisziplinen - die Militärgeschichte wie die Kulturgeschichte der Gewalt - haben in den vergangenen 20 Jahren methodisch und empirisch viel erreicht. Aber wirklich zueinander gefunden haben sie noch nicht. Und genau da gilt es anzusetzen, weil man - wie Sie in Ihrer Frage schon festgestellt haben - beide Ansätze stärker zusammenführen muss. Ich hoffe, dass Harald Welzer und ich in unserem Buch „Soldaten" gezeigt haben, wie dies möglich sein kann.

PM: Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede sehen Sie zwischen den beiden Forschungsfeldern? Wie werden Sie versuchen, beiden gerecht zu werden?

Neitzel: Die Forschungsmethoden und -fragen sind natürlich andere. Die Kulturgeschichte der Gewalt leitet sich stark aus soziologischen Fragestellungen ab. Kriege und Genozide spielen dabei durchaus eine Rolle aber das Interesse am Militär und dem Gewalthandeln von Soldaten in Kriegen ist bei den Kolleginnen und Kollegen oftmals nur schwach ausgeprägt. Umgekehrt interessiert sich die Militärgeschichte oft nicht für die einschlägigen Forschungen der Soziologen, die uns freilich helfen, Kriege besser zu verstehen. Im Potsdamer ZMSBw sind ja gerade Historiker und Soziologen unter einem Dach zusammengefasst worden. Bessere Kooperationsmöglichkeiten kann man sich gar nicht wünschen. Ziel muss es nun sein, dass wir in Potsdam ein großes Forschungsprojekt zu militärischen Gewaltkulturen aufbauen, in dem sich die Forschungsinteressen und -traditionen sowohl der Potsdamer Universität als auch des ZMSBw und des ZZF wiederfinden. PM: Welche Rolle spielen kulturgeschichtliche Ansätze dabei? Werden Sie noch andere aktuelle inhaltliche oder methodische Entwicklungen stärken? Neitzel: Kulturgeschichtliche Ansätze spielen dabei naturgemäß eine zentrale Rolle. Mir ist es aber wichtig es nicht dabei zu belassen, sondern eine große methodische und thematische Breite zu vertreten. Operations- und technikgeschichtliche Ansätze können beispielsweise wichtige empirische Grundlagen für das Verständnis von Militärkulturen liefern. Wir müssen uns daher auch darum kümmern.

Interview: Christoph Nübel

  • 1. Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.