Der Kalte-Krieg-Diskurs im digitalen Spiel
Eugen Pfister
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
10. April 2017
Schwerpunktthema: 
DOI: 
10.15500/akm.10.4.2017

Die Geschichte des digitalen Spiels ist auf mehreren historischen Ebenen eng mit der des Kalten Kriegs verbunden. Auf einer ersten - technologiehistorischen - Ebene verdanken Computerspiele ihre Verbreitung unter anderem der Entwicklung des Mikroprozessors, welcher wiederum ein Produkt des technologischen Wettrennens zwischen Ost und West war.1 Auf einer zweiten - zum Teil auch diskursiven - Ebene dominierte der Kalte Krieg als zeitgenössischer und umfassender Konflikt zweier scheinbar unvereinbarer politischer Systeme das politische Feld bis zum Ende der 1980er Jahre, also zur selben Zeit, als eine erste Expansionsphase des digitalen Spiels stattfand. Auf einer dritten - diskursiven - Ebene wurde er nach 1991 rasch zu einer (historischen) Marke mit Wiedererkennungswert. In digitalen Spielen scheint der Kalte Krieg heute, wenige Monate nach der von einem großen medialen Echo begleiteten Veröffentlichung von Fallout 4 (Bethesda Softworks: US 2015 / PS4 u. a.) nach wie vor Thema zu sein, immerhin 25 Jahre nach seinem "offiziellen" Ende 1991.2 Im Folgenden werde ich deshalb in einem ersten Schritt der Frage nachgehen, ob und wie sich der Kalte-Krieg-Diskurs von der ersten (ca. 1978-1991) zur zweiten Phase (1991-heute) verändert hat, und dabei Brüche und Kontinuitäten hervorarbeiten. Welche Geschichtsbilder des Kalten Krieges wurden und werden in zeitgenössischen Spielen vermittelt und wie unterscheiden diese sich von Spielen aus den 1980er Jahren? In einem zweiten Schritt werde ich dann der Frage nachgehen, warum der Kalte Krieg heute, 25 Jahre nach seinem Ende, noch immer genug Faszination auf uns ausübt, um Spiele verkaufen zu können.

Kalter-Krieg-Spiele (bis 1991)

"Ein Krieg der Kulturen"

In einer ersten Phase (bis 1991) war der Kalte Krieg für die meisten Menschen Europas und Amerikas politische Realität. Der geographisch, gesellschaftspolitisch und kulturell in alle Richtungen und auf alle Ebenen ausufernde Konflikt dominierte nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern war bis ins alltägliche Leben spürbar. 3 Als "Krieg der Kulturen" 4 durchdrang er Narrative und Ästhetik von Filmen, Comics, Populärmusik, Literatur und naturgemäß auch von digitalen Spielen. Neben quasi-propagandistischen Spielen wie Raid over Moscow (Access Software: US 1984 / C64 u. a.) entstanden auch kritische Auseinandersetzungen mit dem Konflikt wie Chris Crawfords Balance of Power (Chris Crawford / Mindscape: US 1985 / Apple II u. a.). Wie schon angesprochen, war die Entwicklung der Computertechnologie durch die Bedürfnisse des Militärisch-Industriellen Komplexes und langfristiger strategischer Planungen ermöglicht beziehungsweise beschleunigt worden. Eine "symbiotische Beziehung" zwischen Kaltem Krieg und digitalen Spielen beschränkte sich nicht auf den technologischen Fortschritt, sondern fand auch mittels eines regelmäßigen Ideenaustauschs statt, wie es William Knoblauch in einem Artikel anhand des SDI-Projekts nachgewiesen hat. 5 Der strategiepolitische Gegensatz vereinnahmte direkt und indirekt auch Computerspiele: Anlässlich des revanchistischen Actionspiels Raid over Moscow kam es beispielsweise in London zu Demonstrationen besorgter BürgerInnen vor den Toren des Publishers U.S. Gold 6 und zu einer parlamentarischen Anfrage in Finnland. 7 Viele der ersten Spielprogramme waren sogenannte Konfliktsimulationen, die sich aus den überkomplexen Brettspielen der 1970er Jahre (sogenannte Cosims = Conflict Simulations) heraus entwickelt hatten. Der Rückgriff auf zeitgenössische Konflikte ist für diese Spiele leicht nachvollziehbar, da das agonale Element (also der Konflikt als spielbestimmende Mechanik) - auch in Form von Konkurrenz beziehungsweise Wettbewerb - Kernmechanik des größten Teils der digitalen Spiele und der Spiele im Allgemeinen war. Wenn man darüberhinaus noch die Flut an zeitgenössischen populärwissenschaftlichen strategiepolitischen Büchern über den Konflikt mit reißerischen Titeln wie "Nuclear War in the 1980s?" 8 bedenkt, verwundert es nicht, dass viele Videospiele aus den 1980er Jahren den zeitgenössischen Kalten Krieg als Kulisse wählten. Das reichte von simplen Versuchen die Marke "Kalter Krieg" auszuschlachten bis hin zu anspruchsvollen Politiksimulationen. Am unteren Ende dieser Spanne findet sich zum Beispiel das absurde Communist Mutants from Space (Starpath US: 1982 / Atari 2600), ein billiger Klon des zu der Zeit hoch erfolgreichen Spiels Space Invaders (Taito J: 1978 / Arcade). Die Hintergrundgeschichte des simplen "Fixed Shooters" ist für die Spielmechanik an sich unerheblich und findet sich nur in Form eines Absatzes im Handbuch wieder: "About the enemy: The evil ruler of the planet Rooskee [sic!] has launched a diabolical attack. A cunning Mother Creature, filled with irradiated vodka, transforms helpless slaves captured on peaceful planets into bloodthirsty COMMUNIST MUTANTS. The Commie Mutants attack like crazy! Wipe out wave after wave of them, and they keep on coming. And the more you vaporize, the nastier they get. You've got trouble." Es handelt sich hierbei augenscheinlich um den Versuch, allein durch die Erwähnung des Kalten Krieges einen Mehrwert zu generieren.

WarGames

Es gab zugleich Versuche, den Kalten Krieg möglichst detailgetreu zu simulieren. Inspiriert vom Film "WarGames" (US 1983 / Regie: John Badham) erschien ein Jahr später das gleichnamige Spiel Wargames (Coleco US: 1984 / Coleco u. a.). Bereits zuvor, nämlich 1980, war mit B-1- Nuclear Bomber (Microcomputer Games US: 1981 / Apple II u. a.) eine erste textbasierte Flugsimulation auf den Markt gekommen. Dieser folgten über die nächsten zwei Jahrzehnte unzählige weitere, mit zunehmend realistischerer Grafik. Ein Genre, in dem sich vor allem der amerikanische Spieleentwickler MicroProse profilieren konnte mit Titeln wie: F-15E Strike Eagle (MicroProse US: 1985 / C64 u. a.) und F-19 Stealth Fighter (MicroProse US: 1988 / DOS u. a.). Es entstanden darüber hinaus Marine-Simulationen wie Harpoon (Three-Seixty Pacific US: 1989 / DOS u. a.) sowie die bereits angesprochenen strategischen Simulationen, die sich fast ausschließlich auf den europäischen Kontinent konzentrierten. In Spielen wie Reforger 88: Nato Defense oft he Fulda Gap (SSI US: 1984 / Apple II u. a.), Theatre Europe (PSS UK: 1985 / C64 u.A.) und Conflict: Europe (PSS UK:1989 / Amiga u.A.) galt es, dden eigenen Truppen (die meist in Form abstrakter taktischer Zeichen dargestellt waren) Runde für Runde Befehle zu geben. Spätere Spiele wie Conflict: Europe ließen darüber hinaus rudimentäre diplomatische Verhandlungen und wissenschaftliche Forschungsprojekte zu. Nahezu alle genannten Spiele gingen dabei davon aus, dass der Kalte Krieg eskaliert und ein "heißer Krieg" zwischen den Staaten des Warschauer Vertrages und jenen der NATO ausgebrochen wäre. Gewinnvoraussetzung war es den Gegner zu besiegen oder gar zu eliminieren. Gründe für den Ausbruch eines heißen Krieges wurden dabei meist nicht angegeben. Zumindest nicht in den Spielen selber, denn zugleich ließen sich in den Handbüchern der Spiele immer wieder Hinweise darauf finden, dass sich die SpieleentwicklerInnen durchaus mit den moralischen Fragen des Konflikts auseinandergesetzt hatten. So steht zum Beispiel im Handbuch von Conflict:Europe: "We do not believe a computer game should be used as a platform to make political statements. We have tried our hardest to be impartial in our treatment, whatever our feelings on the subject. No doubt we have fallen victim to both sides ‚dis-information" services during our research and we apologise for any errors this may have led to." 9

Kritische Spiele?

Immer wieder flossen kritische Untertöne in solche Spiele ein. Im Spiel Theatre: Europe war die Titelmelodie eine Hommage an John Lennons "Give Peace a Chance" und Ziel des Spiels war es zu gewinnen ohne Atomwaffen einzusetzen. Ironischerweise war es gerade bei diesem Spiel vor seinem Erscheinen zu einer öffentlichen Kontroverse gekommen. Sowohl die Campaign for Nuclear Disarmement als auch die Tageszeitung "The Sun" kritisierten den Spielentwickler PSS dafür, einen atomaren Krieg zu banalisieren, obwohl das Spiel bewusst den Einsatz atomarer Waffen bestrafte. 10Ein weiteres Beispiel für einen Versuch, den Kalten Krieg kritisch zu simulieren war, Chris Crawfords Politiksimulation Balance of Power (Chris Crawford / Mindscape: US 1985 / Apple II u. a.). Die SpielerInnen übernahmen hier entweder die Rolle des amerikanischen Präsidenten oder des sowjetischen Generalsekretärs der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) und mussten für acht Jahre die Geschicke einer der beiden Supermächte lenken, deren Prestige maximieren, zugleich aber einen nuklearen Krieg verhindern. Wenn die Entscheidung der SpielerInnen einen nuklearen Krieg auslöste, war das Spiel beendet und folgende Botschaft erschien auf dem Bildschirm "You have ignited a nuclear war. And no, there is no animated display of a mushroom cloud with parts of bodies flying through the air. We do not reward failure." Einen nicht weniger beklemmenden Zugang wählte der amerikanische Programmierer David Theurer in seinem 1980 für Atari entwickelten Arcadespiel Missile Command (Atari US: 1980 / Arcade u. a.). Das Narrativ des Spiels ist rudimentär, bedingt durch die beschränkten Möglichkeiten der frühen 1980er Jahre: Die sechs Städte der SpielerInnen werden von einem nicht enden wollenden Hagel ballistischer Raketen angegriffen, die abgewehrt werden müssen. Neben den üblichen ICBMs (Intercontinental Ballistic Missiles) werden auch MIRVs dargestellt (Multiple Independently targetable Re-entry Missiles). Die SpielerInnen verfügen zur Verteidigung der Städte über drei Batterien Raketenabwehr mit einem beschränkten Kontingent an ABMs (Anti Ballistic Missiles). Tatsächlich war der Publisher besorgt ob der eindeutigen Parallelen zum Kalten Krieg und bestand darauf, als Hintergrundgeschichte einen Science-Fiction-Plot einzuführen, so dass im Spiel zumindest "offiziell" Angriffe von Aliens vom Planeten Kryptol abgewehrt werden müssen. 11Der Plot war aber nur in der Anleitung nachzulesen, die auf der Seite der Arcade-Maschinen angebracht war. Der Einfluss des Kalten Krieges war für alle klar ersichtlich. Das Spiel kommunizierte allein mittels der Spielmechanik eine politische Aussage. Es konnte nicht gewonnen werden und endete automatisch, sobald alle sechs Spielerstädte vernichtet waren. Auch erschien dann nicht das traditionelle "Game Over" am Bildschirm, sondern ein ominöses "The End". Am Ende des Spiels stand auch das Ende der Welt.

Die Angst vor dem nuklearen Holocaust

Die Angst vor dem nuklearen Holocaust ist mit Sicherheit einer der prägendsten Diskurse des Kalten Krieges und inspirierte unzählige Filme, Romane und Bilder. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass nukleare Dystopien auch ein eigenes Genre von digitalen Spielen inspirierten, wie z. B. Wasteland (Interplay US: 1988 / Apple II u. a.). Wie seine spirituellen Nachfolger aus der Fallout-Serie bediente Wasteland mit seiner Darstellung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruchs und alptraumhaften Visionen eines menschenfeindlichen postnuklearen Ödlands eine menschliche Urangst. 12 Hier wurden atavistische Ängste von einer kurz bevorstehenden Apokalypse angezapft, die sich ikonographisch und ideengeschichtlich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lassen und zu den heißen Zeiten des Kalten Krieges wieder verstärkt an die Oberfläche des kollektiven Unterbewussten gedrungen waren. 13

Kalter Krieg spielen (ab 1989/1991)

Nach dem in den Feuilletons weltweit verkündeten Ende des Kalten Kriegs 1991, welches zu dem Zeitpunkt nicht nur für Francis Fukuyama zugleich das Ende der Geschichte bedeutete, 14erschienen zunächst auch weniger Spiele, die den Konflikt thematisierten. Der befürchtete nukleare Holocaust schien vorerst abgewandt. Propagandistische Zerrbilder von russischsprachigen Antagonisten waren nicht länger opportun. Zeitgenössische Konfliktsimulationen bedienten sich stattdessen vermehrt internationaler Terroristen als Antagonisten. Ab der Jahrtausendwende fand dann eine langsame Renaissance des Kalten-Kriegs-Topos statt, sowohl auf einer narrativen als auch auf einer ästhetischen Ebene.

Kalter-Krieg-Spiele

Kalter-Krieg-Spiele bilden eine vergleichsweise heterogene Masse, wie der amerikanische Politologe Marcus Schulzke es anschaulich beschrieben hat. In einem Essay machte Schulzke drei immer wiederkehrende Motive aus: 1. historische Simulationen, 2. dostapokalyptische Spiele und 3. Dritter-Weltkrieg-Spiele. 15Davon ausgehend, möchte ich an dieser Stelle ein modifiziertes viergliedriges Model von Kalter-Krieg-Narrativen vorstellen, auf die häufig rekurriert wird :

1. Zum einen sind das Strategiespiele oder Kampfsimulatoren, die vor dem Hintergrund historischer (realer oder fiktiver) Konflikte des Kalten Krieges von den 1950er bis in die 1980er Jahre stattfinden. Möglichst "realistische" historische Konflikte wie der Vietnam- und der Afghanistankrieg finden sich vor allem unter den Fahrzeugsimulationen, spielen bei taktischen Shootern aber eher eine untergeordnete Rolle, wie es Steffen Benders historische Untersuchung von Kriegen des 20. Jahrhunderts in Computerspielen gezeigt hat. 16 Daneben finden sich häufig fiktive historische Hintergrundgeschichten wie zum Beispiel in Call of Duty: Black Ops (Treyarch: US 2010 / Xbox 360 u. a.) oder No One lives Forever (Monolith Productions: US 2000 / Windows u. a.). 2. Weiterhin gibt es Spiele, deren Handlung in alternativen Zeitlinien stattfindet, beziehungsweise Spiele, die Zeitreisemechanismen benutzen. Diese setzen den Kalten Krieg in der einen oder anderen Form bis heute fort, wie zum Beispiel Singularity (Raven Software: US 2010 / Xbox 360 u. a-951299261 .) oder Command & Conquer: Alarmstufe Rot (Monolith Productions: US 2000 / Windows u. a.). 3. Andere Spiele übertragen ein Kalter-Krieg-Narrativ nahezu unverändert auf zeitgenössische kommunistische Staaten wie China oder Nordkorea. So spielte etwa der "Schurkenstaat" Nordkorea im 2011 erschienen First-Person-Shooter Homefront (Kaos Studios US: 2011 / Windows u.A.) die Rolle des Invasoren. 4. Abschließend wären noch jene Spiele zu nennen, die den Kalten Krieg entweder als dichotomen Gut-Böse-Konflikt oder aber als Neuauflage eines mythischen Ost-West-Konflikts neu interpretieren, wie zum Beispiel Call of Duty 4: Modern Warfare (Infinity Ward US: 2007 / Windows u. a.).

Ein neuer / alter Ost-West-Konflikt

Interessanterweise blieben gerade letztere Spiele dem Mythos des Kalten Krieges besonders treu. In der Erzählung von Call of Duty 4: Modern Warfare etwa will der ultranationalistische Anführer Imran Zakhaev Russland zum verlorenen Glanz sowjetischer Zeiten zurückverhelfen. Nach seinem Tod greifen russische Truppen in dem Nachfolgespiel Call of Duty: Modern Warfare 2 (Infinity Ward US: 2009 / Windows u. a.) die USA an, was unter anderem in Straßenkämpfen in Washington DC mündet. Hier wird eine populäre Urangst der USA angesprochen, die in den 1980er Jahren von Actionfilmen wie Red Dawn (US 1984 / Regie: John Milius) bedient wurde. Die EntwicklerInnen von Modern Warfare 2 nahmen übrigens direkt Bezug auf diesen Hintergrund, indem sie eine Ranger-Einheit wie im Film aus dem Jahr 1984 "Wolverines" nannten. Hier findet sich außerdem eine filmische Cutscene, in der zu sehen ist, wie ein Monument für den verstorbenen Despoten Zakhaev auf dem Roten Platz in Moskau errichtet wurde, gerahmt von den Symbolen der UdSSR: Hammer, Sichel und roter Stern. Dazu ist eine Erzählerstimme zu hören: "The more things change, the more they stay the same". Den SpielerInnen wird hier kein Spielraum für mögliche abweichende Interpretationen gelassen. In Aufbau, Ästhetik und Narrativ, ja selbst in der Spielmechanik, unterscheiden sich die vier distinkten Modelle nicht wirklich voneinander. Sie folgen - mit wenigen Ausnahmen - einem ähnlichen basalen Aufbau: Immer kommt es zum zwingenden Showdown zwischen zwei übermächtigen Machtblöcken.

Kalter-Krieg-Tropen

Das 2010 vom amerikanischen Entwickler Raven für Activision entwickelte Spiel Singularity verkörpert besonders eindrucksvoll einen populären zeitgenössischen Kalter-Krieg-Diskurs, wie er sich heute präsentiert, weswegen ich das Spiel im Folgenden stellvertretend analysieren werde: Der First-Person-Shooter präsentiert sich als Schmelztiegel mehrerer bekannter Tropen: Das Narrativ von Singularity vereint einen klassischen "Held vs. wahnsinniges Genie"-Plot in der Tradition von James Bond mit einer Zeitreisemechanik und fügt ergänzend noch mutierte sowjetische Soldaten vor dem Hintergrund des Kalten Krieges hinzu. Auf der visuellen Ebene bedienten sich die EntwicklerInnen aller bekannten Stereotypen sowjetischer Architektur. Die heruntergekommenen Wände der verlassenen Forschungsstation Katorga-12, die als Schauplatz des Spieles dient, sind mit Überresten sowjetischer Propaganda-Plakate zugepflastert und hinter jeder Ecke erwartet die SpielerInnen eine neue Lenin- oder Stalinstatue.

Der Kalte Krieg als narratives Versatzstück-Lager

Der Kalte Krieg gibt hier - in einer übersteigerten Form - nicht nur den ästhetischen Rahmen des Spiels vor, er bestimmt auch die Erzählung. Der im Spiel unhinterfragte Antagonismus zwischen "dem Westen" (vertreten durch die eine Spezialeinheit der USA) und "dem Osten" ist Grundvoraussetzung für den Plot und soll der Motivation des Protagonisten dienen. Hier muss nicht umständlich eine Story eingeführt werden. Es ist von Anfang an klar, wer der Antagonist und wer der Protagonist ist. Das darf man durchaus auch so verstehen, dass der Rekurs auf historische Versatzstücke den EntwicklerInnen hier die aufwendige Arbeit des kreativen Schreibens abnahm. 17 So ist die vereinsamte Insel Katorga-12 nichts anderes als eine Anspielung auf die berüchtigten "Closed Towns" Tscheljabinsk-40 und Arsamas-16, in denen das sowjetische Atomprogramm erforscht wurde.18 Die Singularitäts-Katastrophe wiederum ist eine direkte Anspielung auf den Tscheljabinsker "Atomunfall" von 1957, als ein unsachgemäß gelagerter Untergrundtank mit flüssigem Atommüll explodierte. Somit haben wir in Singularity zumindest in den Ursprüngen der Erzählung und im ästhetischen Setting eine sehr starke - fast überkompensierende - Bezugnahme auf den Kalten Krieg, oder besser gesagt auf einen populären Diskurs des Kalten Kriegs. Wenn man aber genauer betrachtet, wie sich der Kalte-Krieg-Diskurs im weiteren Verlauf des Spiels entwickelt, so muss man feststellen, dass diesem im Grunde keine tiefere Bedeutung beigemessen wird. Der historische Hintergrund bleibt zu jedem Zeitpunkt austauschbar. Die Erzählung - der Kampf eines amerikanischen Übersoldaten gegen ein böses Genie - bleibt sekundär. Wir sind es aus den James-Bond-Filmen nicht anders gewohnt. Das heißt aber auch, dass die Stunden des Laufens und des Schusswechsels mit mutierten Soldaten in den engen Korridoren genauso gut in einer nordkoreanischen oder iranischen Forschungsstation hätten stattfinden können. Dieselbe Geschichte würde auch mit einem verrückten Nazi-Professor und seiner Horde untoter Supersoldaten funktionieren, wie es Raven Software ein Jahr vor Erscheinen von Singularity mit Wolfenstein (Raven Software US : 2009 / Windows u. a.) selbst gezeigt hatte.

"Kulissenauthentizität"

Der Kalte Krieg ist also nicht so sehr Voraussetzung für die Handlung als bloßer Hintergrund, ein oberflächliches buntes Abziehbild und - wie gezeigt - austauschbar. Der historische Bezug wird hier zur Kulissenauthentizität. 19 Es geht diesen Spielen nicht darum, den Kalten Krieg zu verarbeiten, zu erklären oder gar kritisch Stellung zu beziehen. Es geht darum, ein Produkt zu verkaufen. Das gestehen die EntwicklerInnen meistens auch freimütig, wie man in einem Aufsatz des Historikers Clemens Reisner nachlesen kann. 20 Wenn aber der Kalte Krieg nicht Voraussetzung der Erzählung ist, scheint die Frage durchaus berechtigt, warum sich die EntwicklerInnen überhaupt für genau dieses Setting entschieden haben.

Der Kalte Krieg als Marke

Geschichte beziehungsweise historische Ereignisse können in Videospielen genauso wie auch in Film und Literatur ähnlich wie eine Marke funktionieren, vergleichbar etwa dem Star Wars- oder Batman-Franchise, wenn auch naturgemäß mit einem weniger stark ausgeprägten Profil. 21] Das Setting "Kreuzzug", "Zweiter Weltkrieg" oder eben auch "Kalter Krieg" funktioniert bei den SpielerInnen/KonsumentInnen als unmittelbar erkennbare Trademark und kann solcherart spezifische Konsumentengruppen gezielt ansprechen. Ein Blick auf eine aktuelle Definition des Begriffs "Marke" im Gabler Wirtschaftslexikon zeigt, weshalb hier die Wahl des Kalten Kriegs für ein Spiel beziehungsweise eine Spielreihe interessant sein kann: "Eine Marke kann als die Summe aller Vorstellungen verstanden werden, die ein Markenname oder ein Markenzeichen bei Kunden hervorruft bzw. beim Kunden hervorrufen soll, um die Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden." In einem aus Gründen der Marktlogik zunehmend homogenisierten Spielemarkt im Hochpreissegment (die sogenannten Triple-A-Spiele) kann also die Marke "Kalter Krieg" einzelnen Spielen dazu verhelfen, aus der Masse gleichartiger Spiele hervorzustechen, denn die "Merkmale [der Marke sind]: Die Vorstellungen werden durch Namen, Begriffe, Zeichen, Logos, Symbole oder Kombinationen dieser zur Identifikation und Orientierungshilfe bei der Auswahl von Produkten oder Dienstleistungen geschaffen" 22 Solche Begriffe, Logos und Symbole des Kalten Krieges sind tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert. Die Marke "Kalter Krieg" dient aber nicht nur als "Alleinstellungsmerkmal", sie funktioniert darüber hinaus auch durch eine emotionelle Aktivierung der SpielerInnen, wie folgender Absatz aus der gleichen Definition verdeutlicht: "Für den Konsumenten ist eine starke Marke eine verdichtete Information, die: 1. Zusatzinformationen (z. B. über die Qualität) liefert und damit das wahrgenommene Kaufrisiko verringert, 2. Orientierungshilfe innerhalb der vielen Angebote ist, 3. Vertrauen schafft, 4. einen emotionalen Anker darstellt, d. h. bestimmte Gefühle und Images vermittelt und 5. zur Abgrenzung und Vermittlung eigener Wertvorstellungen beiträgt." 23 Insbesondere die letzten zwei Punkte sind hier für uns von Interesse, denn sie bieten uns erste plausible Antwortmöglichkeiten auf die eingangs gestellte Frage, warum der Kalte Krieg auch heute noch als Marke funktioniert.

Spiele im Dienste einer kollektiven Identität

Der Kalte Krieg transportiert bzw. kommuniziert immer auch ein Wertesystem, das teilweise nach wie vor in unserem kollektiven Bewusstsein verankert ist. Um diesen Gedanken zu illustrieren, möchte ich auf eine Kritik zum Spiel Singularity von der (mittlerweile nicht mehr aktiven) Rezensionsseite GamingXP verweisen: "And what's not to like. We have our old enemies, the Russians back in their traditional role of protagonist - something that hasn't been politically correct for entertainment purposes for many years now." [24 Die Kritik spricht neben dem automatischen Zurechtfinden in einem bekannten historischen Referenzsystem hier noch etwas Weiteres an: einen "emotionalen Anker", eine Form der Nostalgie. Der Kalte Krieg war mehr als nur ein strategischer Konflikt. Für mehrere Jahrzehnte war er zum Bestandteil individueller und kollektiver Identitäten geworden. Jedes Individuum verortete sich im politischen Werteraster "Kalter Krieg". Als Narrativ bot er ein rigides Referenzsystem, das ganz klar zwischen "uns" und "den anderen" differenzierte - auf beiden Seiten des Konflikts. Mittels einer aus unzähligen Filmen, Romanen, Comics und Spielen bekannten, verführerisch simplen Erzählung und der eindeutigen Dichotomie Gut-gegen-Böse /Wir-gegen-Sie eignet sich der Kalte Krieg vermeintlich besonders gut für Computerspiele. Eine fortdauernde Erinnerung an den Kalten Krieg half, soziale Strukturen und politische Systeme zu stabilisieren, und diente auf beiden Seiten des "Eisernen Vorhangs" auch dazu, unpopuläre politische Entscheidungen zu legitimieren. Die kollektiven Identitäten "Osten" und "Westen" wurden nicht alleine mittels politischer Reden und Streitschriften kommuniziert und argumentiert, sondern von Anfang an in Massenmedien und in der Populärkultur. Schon bald waren gewisse Narrative und Aussagen so eingespielt, dass sie zum Selbstläufer wurden und man sich automatisch an sie hielt. So ist es zu erklären, dass auch heute, also ein Viertel Jahrhundert nach Ende des Kalten Kriegs, große Teile dieses Diskurses noch immer in Teilen der Bevölkerung aktiviert werden können.

Ausblick

Kalter-Krieg-Spiele, die nach 1991 entstanden sind, unterscheiden sich naturgemäß vor allem darin von ihren Vorgängern, dass es Ihnen eigentlich nicht mehr darum gehen kann potenzielle zukünftige Konflikte zu simulieren. Der Kalte Krieg war Geschichte geworden. Zugleich zielen heute aber nur die wenigsten Spielen darauf ab, den nun historischen "Kalten Krieg" als solchen darzustellen. Es fehlen Simulationen jener eigentümlichen Phase in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen eher die Ausnahme waren und sich vor allem auf Stellvertreterkriege beschränkten. Im Grunde lassen sich fast alle in diesem Aufsatz genannten Spiele auf die Aktivierung apokalyptischer Urängste zurückführen. Dystopische Untergangsszenarien sind hier das verbindende. Strategische Politik- oder Spionagesimulationen, die den Eigenheiten des Kalten Krieges weitaus besser gerecht würden, bleiben dagegen weiterhin die Ausnahme. Die Erklärung dafür, warum auch heute noch solche Spiele funktionieren, wurde bereits im Ansatz gegeben: Der Kalte Krieg wurde vom allesbestimmenden und allesumgreifenden globalen Konflikt zu einer Marke mit Wiederkennungswert. Eine Marke, die vor allem aufgrund kollektiver Ängste funktioniert, die auch nach dem Krieg noch präsent bleiben. Die Marke bedient dabei eine diffuse nostalgische Verklärung einer "einfacheren Zeit", als man noch problemlos zwischen "gut" und "böse" unterscheiden konnte. Weder in den 1980ern noch heute war also die Darstellung eines real stattfindenden Kalten Krieges das Ziel. Vielmehr handelte es sich von Anfang an um einen fiktiven Kalten Krieg, der unserer Populärkultur entsprungen ist. Insofern darf es auch nicht verwundern, wenn sich das Narrativ trotz veränderter Verhältnisse nicht ernsthaft verändert hat. Es ist noch immer eine Geschichte von Schwarz und Weiß, die Erzählung eines, auf seine Weise ehrenhaften, Konflikts, wie wir sie auch aus den Fantasy- und Science-Fiction-Genres kennen. Und weil diese Erzählungen bestimmte Urängste und kollektive Erwartungen aufgreifen, funktionieren sie nach wie vor und lassen sich entsprechend "verkaufen". Dieser kurze Überblick wird naturgemäß der Bedeutung der Frage, wie der Kalte Krieg zur Marke wurde, nicht gerecht. Dafür bedürfte es einer weitaus umfassenderen Untersuchung, die noch intensiver auf Erfahrungen aus anderen Medien und aus der Ideengeschichte zurückgreifen müsste. So bleiben zum Schluss drei offene Fragen, denen es in Zukunft nachzugehen gälte: 1. Wie unterscheidet sich das hier skizzierte Kalte-Krieg-Narrativ im digitalen Spiel von einem ebenso dichotomen Zweiter-Weltkrieg-Narrativ? Oder ist es so, dass eben durch die Konsistenz der Erzählung ihr identitätsstiftende Potenzial gestärkt wird? 2. Rezipiert das zeitgenössische Kalter-Krieg-Bild im Spiel einen real vorhandenen Ost-West-Konflikt oder konstruiert es diesen aktiv mit? Und schließlich: 3. Funktioniert der zeitgenössische Mythos Kalter Krieg, wie wir er hier exemplarisch am Beispiel digitaler Spiele herausgearbeitet wurde, als Gründungsmythos einer konstruierten kollektiven Identität des "Westens"?

  • 1. Tristan Donovan und Gérard Kraus, Video Games: Platforms, programmes and players. In: Glen Creeber und Royston Martin (Hrsg.), Digital Cultures. Understanding New Media, Maidenhead 2009.
  • 2. Digitale Spiele wurden mit folgenden Angaben zitiert: (Entwickler Land/Jahr der Veröffentlichung /System).
  • 3. Vgl. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, München 2003, 9: „Rasch entwickelte sich der Kalte Krieg zu einem ‚totalen Krieg’, in dem mit Ausnahme der atomaren Waffen, die sich aufgrund ihres langfristigen Zerstörungspotenzials als nicht einsetzbar erwiesen, alles Verfügbare zur Anwendung kam, um diesen Konflikt zu gewinnen. Der Kalte Krieg war eine politisch-ideologische technologisch-wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung, die ihre Auswirkung bis in den Alltag zeigte.“
  • 4. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947-1991, München 2007, 256-269.
  • 5. Die Campaign for Nuclear Disarmament (CND) demonstrierte aus eben diesen Grund vor den Büros des Publishers US Gold. Siehe Tristan Donovan 225f.
  • 6. Tero Pasanen,, Gaming the Taboo in the Finlandisation Era Finland: The Case of Raid over Moscow. In: D. Stobbart, & M. Evans (Hrsg.), Engaging with Videogames: Play, Theory and Practice, o.O. 2014, 121-131.
  • 7. William M. Knoblauch, Strategic Digital Defense: Video Games and Reagan’s ‚Star Wars‘ Program, 1980-1987. In: Matthew Wilhelm Kapell/Andrew B.R. Elliott (Hrsg.), Playing with the Past: Digital Games and the Simulation of History, London 2013, 279-296.
  • 8. Christopher Chant und Ian Hogg, Nuclear War in the 1980’s?, New York 1983.
  • 9. Conflict: Europe Manual, 22.
  • 10. Interview mit PSS-Gründer Richard Cockayne in „Generals, wizards and a wiff of garlic“. In: Your Computer 6 (13 June 1986), 84–85.
  • 11. William M. Knoblauch, Strategic Digital Defense: Video Games and Reagan’s ‚Star Wars‘ Program, 1980-1987. In: Matthew Wilhelm Kapell/Andrew B.R. Elliott (Hrsg.), Playing with the Past: Digital Games and the Simulation of History, London 2013, 279-296, 282.
  • 12. Spencer R. Weart, The Rise of Nuclear Fear, Cambridge MA 2012, 263.
  • 13. Eugen Pfister, Nuclear Optimism in European Newsreels in the 1950. In: Zeitgeschichte 5 (2015), 285-298.
  • 14. Francis Fukuyama, The end of history?. In: The National Interest (Sommer 1989) http://www.wesjones.com/eoh.htm.
  • 15. Marcus Schulzke, Refighting the Cold War: Video Games and Speculative History. In: Matthew Wilhelm Kapell und Andrew B.R. Elliott (Hrsg.), Playing with the Past: Digital Games and the Simulation of History, (London 2013), 261-276.
  • 16. Steffen Bender, Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld 2012, 188.
  • 17. Carl Heinze, Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel, Bielefeld 2012, 207.
  • 18. Siehe Kate Brown, Plutopia. Nuclear Families, Atomic Cities, and the Great Soviet and American Plutonium Disasters, New York 2013.
  • 19. Ebenda 182.
  • 20. Clemens Reisner, „Videogames in the popular Culture of Remembrance of the Cold War: A Case Study of Call of Duty: Black Ops“. In: Matthew Wilhelm Kapell und Andrew B.R. Elliott (Hg.), Playing with the Past: Digital Games and the Simulation of History, (London 2013), 247-260.
  • 21. Vgl. Benedikt Schüler, Christopher Schmitz und Karsten Lehmann, Geschichte als Marke. Historische Inhalte in Computerspielen aus Sicht der Softwarebranche. In: Angela Schwarz (Hrsg.), Wollten Sie auch schon einmal pestverseuchte Kühe auf ihre Gegner werfen? Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte im Computerspiel, Münster 2010, 199-216 und Heinze, Mittelalter Computer Spiele, 174-183.
  • 22. Daniel Markgraf, Marke. In: wirtschaftslexikon.gabler.de. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/marke.html (25. 02. 2016).
  • 23. Ebenda.
  • 24. Singularity. In: gamingxp.com. http://www.gamingxp.com/bericht-3851-activision-raven_software-pc-singul... (letzter Zugriff 25.08.2013). Die Seite ist mittlerweile nicht mehr online verfügbar.
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