Etienne Schinkel und Constanze Schlüter
Exkursionsbericht
Veröffentlicht am: 
25. Februar 2013

Seit dem 9. Oktober 1991 erinnert die Volkswagen AG (VW) mit einem Gedenkstein auf dem Gelände des Volkswagenwerkes an "Tausende von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, die als rassisch und politisch Verfolgte, als Kriegsgefangene und aus dem vom Dritten Reich besetzten Ländern Europas Deportierte im Volkswagenwerk für die Rüstungsanstrengungen und den Krieg eines verbrecherischen Systems gelitten haben" (Inschrift der Gedenktafel). Acht Jahre später errichtete Europas größter Autobauer eine Dauerausstellung, um die Erinnerung an das dunkelste Kapitel seiner Geschichte wach zu halten.

Die Ausbeutung der Zwangsarbeiter durch das Volkswagenwerk

Militärische und wirtschaftliche Stärke waren die notwendigen Voraussetzungen für die angestrebte Vormachtstellung in Europa, die das nationalsozialistische Deutschland aufgrund seiner rassistisch-ideologischen Vorstellung von der ethnischen Überlegenheit des "Ariers" gegenüber anderen Völkern für sich beanspruchte. Der Bau des Volkswagenwerkes unweit von Fallersleben am Mittellandkanal, dessen Grundsteinlegung am 16. Mai 1938 in Anwesenheit Adolf Hitlers stattfand, stand indes zunächst ganz im Zeichen der "Volksmotorisierung" des NS-Regimes. Ferdinand Porsche, ein österreichisch-deutscher Autokonstrukteur und Gründer der Firma Porsche in Stuttgart, wurde daher mit der Konstruktion des sogenannten "Kraft durch Freude-Wagens" (siehe Bild) beauftragt, der mittels eines Ratensparsystems den "Volksgenossen" angeboten werden sollte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs legte jedoch die zivile Automobilproduktion lahm, was zur Folge hatte, dass VW plötzlich in vollkommenem Widerspruch zur nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung stand. Um dennoch das Fortbestehen des Werkes zu sichern, kam es unter Einbeziehung verschiedenster Rüstungsanfertigungen und Reparaturaufträge zu einer allmählichen Umwandlung in einen reinen Kriegsbetrieb. Da das Volkswagenwerk von Beginn an über keine ausreichende Stammbelegschaft verfügte, sollte die Zahl der herangezogenen ausländischen Zwangsarbeiter besonders hoch ausfallen. Insgesamt beschäftigte VW rund 20.000 Zwangsarbeiter. Auf dem Höhepunkt der Beschäftigung in den Jahren 1943 und 1944 machten dienstverpflichtete Arbeitskräfte mehr als zwei Drittel der Belegschaft, im Bereich der Betriebsarbeit sogar bis zu 80 Prozent aus. Damit stand VW innerhalb des Deutschen Reiches quantitativ an der Spitze der Beschäftigung von Zwangsarbeitern, die bei anderen Rüstungsbetrieben durchschnittlich 30 Prozent betrug. VW folgte dabei der allgemeinen Arbeitskräfterekrutierung des NS-Regimes: zunächst Facharbeiter aus West- bzw. Südeuropa (Italiener und Franzosen, in geringem Anteil auch Dänen, Niederländer und Belgier), dann Polen, sowjetische Kriegsgefangene und schließlich auch KZ-Häftlinge. Das Schicksal der Zwangsarbeitshäftlinge war dabei nur insoweit von Bedeutung, als es im Verhältnis zur Produktion stand. Dennoch wurden – orientiert an politisch-ideologischen, insbesondere rassischen Gesichtspunkten – bei der Behandlung der Zwangsarbeiter Unterschiede deutlich: Den katastrophalen Lebensbedingungen (permanente Unterernährung, schlechte sanitäre Verhältnisse, fehlende medizinische Betreuung, Überbelegung der Baracken) waren zumeist die sogenannten "Ostarbeiter" (Russen, Ukrainer und Weißrussen) ausgesetzt. Unfreien Arbeitskräften aus Frankreich oder den Niederlanden erging es dagegen in Bezug auf Bezahlung und Versorgung meist besser; auch konnten sie sich relativ frei in der Stadt bewegen. Mit der Untertageverlagerung der Rüstungsproduktion und der stetigen Zunahme des Einsatzes von KZ-Häftlingen kam es indes zu einer regelrechten "Vernichtung" der Arbeitskräfte. Denn bei den nunmehr unter enormer Schnelligkeit durchgepeitschten Bauprojekten galt fortan das Primat der jederzeitigen Ersetzbarkeit des einzelnen Häftlings – erschien doch das durch die militärischen Erfolge der Wehrmacht in den besetzen Gebieten vorhandene Arbeitskräftereservoir lange Zeit nahezu unerschöpflich. Einer der schrecklichsten menschlichen Tragödie waren ferner zahlreiche Zwangsarbeiterinnen ausgesetzt, die schon in schwangerem Zustand in die "Stadt des KdF-Wagens" deportiert worden waren. Unmittelbar nach der Geburt nahm man den Frauen ihre Neugeborenen weg und brachte die Säuglinge in ein Nahe dem Werk gelegenes Heim, wo bis Kriegsende insgesamt 365 Kinder an den Folgen von unzureichender Versorgung sterben sollten.

Die Erinnerungsstätte

Die ursprüngliche Initiative zur Errichtung der "Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeit auf dem Gelände des Volkswagenwerks" steht in enger Verbindung zu dem konzerninternen Engagement für den Aufbau und die Instandhaltung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz/Oświęcim, in der die Volkswagen AG ein Austauschprogramm zwischen polnischen und deutschen Jugendlichen organisiert. Seit 1987 ermöglicht VW dabei jedes Jahr 90 Auszubildenden die Teilnahme an einer vierzehntägigen Gedenkstättenarbeit im früheren Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Mitte der 1990er-Jahre stellte Volkswagen sich als erstes deutsches Großunternehmen auch seiner eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit, indem Hans Mommsen beauftragt wurde, die Geschichte des Unternehmens im Nationalsozialismus zu erforschen. Das Ergebnis erschien 1996 als Buch, das seither als Standardwerk zur engen Verbindung von Unternehmen mit dem NS-System gilt.

Vor Ort in Wolfsburg hatte diese Auseinandersetzung zur Folge, dass am 17. Dezember 1999 in Anwesenheit ehemaliger Zwangsarbeiter eine Dauerausstellung eröffnet wurde. Diese ist in sechs Räumen eines ehemaligen Luftschutzbunkers in Halle 1 auf dem Werksgelände zu sehen. Zeitgenössische Dokumente, Fotos, Zeugenaussagen und andere Exponate, darunter auch Leihgaben persönlich Betroffener (vor allem Alltagsgegenstände wie zum Beispiel selbstgebastelte Löffel, Taschenmesser oder Stoffpuppen) werden in der Ausstellung präsentiert. Sie zeigt somit die Einbindung des Unternehmens in die nationalsozialistische Kriegswirtschaft sowie das Ausmaß und die Struktur der Zwangsarbeiterbeschäftigung.

Raum 1 kontrastiert die nationalsozialistische Vision der Massenmotorisierung nach amerikanischem Vorbild mit den Anfängen der Zwangsarbeit im Volkswagenwerk. In Raum 2 werden die Ausweitung der Rüstungsproduktion und die allmähliche Systematisierung der Zwangsarbeit herausgestellt. Die von VW intendierte Ausbeutung von KZ-Häftlingen wird in Raum 3 dokumentiert. Der Raum 4 setzt sich mit der Untertageverlagerung und Dezentralisierung der Rüstungsproduktion infolge der zunehmenden alliierten Bombenangriffe auseinander. In Raum 5 gerät die Perspektive der Betroffenen explizit in den Blick, wenn in Lichtkästen exemplarische Aussagen ehemaliger Zwangsarbeiter präsentiert werden. Über die innerbetriebliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus informiert schließlich Raum 6, wobei dem Besucher zwei sogenannte elektronische "Points of Information" zur eigenständigen Recherche zur Verfügung stehen.

Das entscheidende Charakteristikum der Erinnerungsstätte, das deren Authentizität ungemein fördert, ist gewiss ihre Lage. Die Auseinandersetzung mit dem Thema findet am historischen Ort, inmitten der ehemaligen Bunkerräume der Fabrik statt. Das über den Besucherköpfen lärmende Presswerk, die durch die laufenden Produktionsmaschinen entstehende Hitze, die niedrigen Decken und nicht zuletzt die allgemeine Enge machen die Erinnerungsstätte gewiss ungemein eindrücklich. Gewollt ist dieser Effekt jedoch eigentlich nicht, da es keineswegs darum geht, dem Besucher das Elend der ehemaligen Häftlinge nachempfindbar zu machen. So wird man denn auch in den einzelnen Ausstellungsräumen nicht emotional "überwältigt", weil auf eine historische Reinszenierung gänzlich verzichtet wird. Stattdessen sensibilisiert die dezente, fast schon nüchterne Anordnung der Exponate für die Materie, indem ein aufgeklärter Blick auf den Ort der Menschenrechtsverletzung ermöglicht wird. Dank der großen Anzahl zeitgenössischer Fundstücke und der zusätzlichen Einbindung der Stimmen ehemaliger Zwangsarbeiter erhält der Ausstellungsbesucher ein relativ konkretes und multiperspektivisches Bild der Verhältnisse vor Ort. Historische Sachverhalte werden eben nicht ausschließlich aus der Täterperspektive dargestellt. Vielmehr stehen die Erlebnisse und Erfahrungen der Opfer im Mittelpunkt der Darstellung. Die ausstellungsdidaktische Inszenierung der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft mit ihren aus den verschiedensten Ländern stammenden zwangsverpflichteten Arbeitern, die alle ausreichend in der Ausstellung gewürdigt werden, offenbart so die Dimension dieses Verbrechens.

Ein kostenloser Besuch der Erinnerungsstätte ist nach vorheriger Terminabsprache mit dem Unternehmensarchiv möglich. Für eine eventuelle Nachbesprechung (zum Beispiel im Rahmen eines Seminarbesuchs) kann zudem der Vortragraum im Unternehmensarchiv gebucht werden. Die Dauerausstellung wird jährlich von ca. 6.000 Interessierten besucht, wobei sich der Hauptteil aus Schulklassen und Auszubildendengruppen zusammensetzt. Der Katalog der Erinnerungsstätte, der alle in der Ausstellung vorzufindenden Exponate und Texttafeln beinhaltet, liegt in deutscher und englischer Sprache vor und kann auf der Internetpräsenz der Volkswagen AG heruntergeladen werden. Weiterhin liegt mit den "Historische Notaten" eine Publikationsreihe vor, in der ehemalige Zwangsarbeiter von ihren individuellen Erfahrungen im Volkswagenwerk während des Zweiten Weltkriegs berichten. Auch diese stehen als Download auf der Homepage zur Verfügung.

Kontakt: Volkswagen Aktiengesellschaft, Historische Kommunikation, Brieffach 1974, 38436 Wolfsburg, history@volkswagen.de

Weitere Informationen: http://www.volkswagenag.com/content/vwcorp/content/de/the_group/history/...

Referenzen:

Manfred Grieger, Erinnerung in der Fabrik. Zwangsarbeit und Geschichtsbewußtsein im Volkswagenwerk. In: Hans Erler (Hrsg.), Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, Frankfurt am Main u.a. 2003, S. 273-283.

Manfred Grieger, Zwangsarbeit im Volkswagenwerk. Historische Entwicklung, persönliche Verarbeitung und betriebliche Erinnerungsformen. In: Gabriella Hauch (Hrsg.), Industrie und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Mercedes Benz – VW – Reichswerke Hermann Göring in Linz und Salzgitter (Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte, Bd. 13), Innsbruck u.a. 2003, S. 49-65.

Klaus Kocks/ Hans-Jürgen Uhl, "Aus der Geschichte lernen". Anmerkungen zur Auseinandersetzung von Belegschaft, Arbeitnehmervertretung, Management und Unternehmensleitung bei Volkswagen mit der Zwangsarbeit im Dritten Reich (Historische Notate, Bd. 1), Wolfsburg 1999.

Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.

Klaus-Jörg Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945, Frankfurt am Main u.a. 1988.

Klaus-Jörg Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk: 1939-1945. Eine Dokumentation (Wolfsburger Beiträge zur Stadtgeschichte und Stadtentwicklung Sonderband), Frankfurt am Main 2. Aufl. 1987.

Dirko Thomsen, Gedenkstättenarbeit und Jugendaustausch bei Volkswagen. In: Eduard Fuchs, Falk Pingel, Verena Radkau (Hrsg.), Holocaust und Nationalsozialismus (Konzepte und Kontroversen. Materialien für Unterricht und Wissenschaft in Geschichte – Geographie – Politische Bildung, Bd. 1), Innsbruck u.a. 2002, S. 89-95.

Volkswagen Kommunikation, Unternehmensarchiv, Wolfsburg (Hrsg.), Katalog zur "Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeit auf dem Gelände des Volkswagenwerks", Wolfsburg 1999.

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