Ein Besuch im Flugplatz Berlin-Gatow
Kai Stottut
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
03. April 2023
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.03.04.2023

Eines der bemerkenswertesten Luftfahrzeuge in der Sammlung des Militärhistorischen Museums (MHM) der Bundeswehr Flugplatz Berlin-Gatow ist eine sowjetische MiG-29 G mit den Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland. Eingedenk der Tatsache, dass die Bundesrepublik als Teil der NATO hinsichtlich militärischer Kooperationen und Ausrüstung westlich orientiert ist, erscheint dies auf den ersten Blick befremdlich bis widersinnig. Warum aber übernahm die Luftwaffe – zumindest zeitweise – ein sowjetisches Flugzeugmuster? Antworten auf diese und andere Fragen erhält man bei einem Besuch des Museums am Berliner Stadtrand.

Der Flugplatz selbst kann in den vergangenen 100 Jahren auf eine wechselhafte Geschichte zurückblicken: Im Zuge der geheimen Aufrüstung des Deutschen Reiches wurde das Gelände ab 1935 als Ausbildungsort für Offiziere der Luftwaffe gegründet. Neben Einrichtungen zur fliegerischen und technischen Schulung waren in Gatow auch Anlagen zur Forschung und Generalstabsausbildung angesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich der Flugplatz in der britischen Besatzungszone Berlins und wurde als Basis der Royal Air Force genutzt. Als solche spielte Gatow – neben den weiteren Berliner Flughäfen Tempelhof und Tegel – auch eine entscheidende Rolle bei der Versorgung West-Berlins während der Luftbrücke 1948/49. In der Folge war die komplexe Realität des Kalten Krieges auch hier stets präsent. Wenige Meter abseits des Flughafengeländes lag bis 1990 mit der DDR ein anderer Staat. Der dicht an der Grenze liegende Flughafen war somit ein Ort, an dem mehr als nur Flugverkehr stattfand – militärische Aufklärung wurde hier wie auf dem Teufelsberg auch von britischer und amerikanischer Seite betrieben. Heute präsentiert das hier ansässige Museum der Bundeswehr eine Douglas DC-3 der Royal Australian Air Force, die zu den bei der Luftbrücke eingesetzten Transportflugzeugtypen gehörte, prominent vor dem Towergebäude und auch auf seiner Webseite.

Abb. 1: Tower und DC-3 (Foto: Kai Stottut)

1994 übergab die britische Luftwaffe das Areal an die Bundeswehr. Diese entschied, auf dem Gelände nicht nur die General-Steinhoff-Kaserne, sondern auch die Luftwaffensammlung des MHMs unterzubringen. Die ereignisreiche Geschichte des Standorts von den ersten Bebauungsplänen während des Nationalsozialismus über den Einsatz unter britischer Besatzung bis zur Übernahme durch die Bundeswehr nach der deutschen Wiedervereinigung wird in einem Sonderbereich der Dauerausstellung unter dem Namen „You Can’t Miss Gatow!“ aufschlussreich und mit einem Auge für Details erzählt.
Eine Besonderheit der Sammlung ist die Herkunft der hier ausgestellten Luftfahrzeuge: Neben den zu erwartenden deutschen Entwicklungen aus der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs und Flugzeugen westlicher Bündnispartner aus der Ära des Kalten Krieges sind hier auch Fluggeräte aus der sowjetischen Luftfahrt zu finden. Grund hierfür liegt in der deutschen Wiedervereinigung, in deren Umsetzung die Bundeswehr Personal und Material aus den Beständen der NVA übernahm. Die eingangs erwähnte MiG-29 galt auch noch Mitte der 1990er-Jahre als hochmodernes Kampfflugzeug und wurde deshalb sowohl zur Luftraumsicherung im Bundesgebiet als auch zur Ausbildung von Piloten im NATO-Bündnis weiterverwendet. 2004 wurde der Flugzeugtyp von der Bundeswehr ausgemustert und die vorhandenen Maschinen an Polen verkauft. Die in Gatow ausgestellte MiG-29 ist das letzte in Deutschland verbliebene Modell. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist eine Lieferung dieses Flugzeugtyps von Polen an die Ukraine regelmäßig Gegenstand der medialen Berichterstattung.

Durch die Präsentation westlicher und sowjetischer Fluggeräte nebeneinander geht die Darstellung der Luftfahrtgeschichte über die rein bundesdeutsche und westliche Perspektive hinaus. Entwicklungen der militärischen Luftfahrt beider großer Bündnisse des Kalten Krieges werden aufgezeigt und sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede sichtbar gemacht: Während sich die frühen Düsenflugzeuge im grundsätzlichen Design wie der Pfeilung der Tragflächen oder Platzierung der Triebwerke stark ähneln, weisen spätere Modelle größere Unterschiede auf. Die Dauerausstellung „Zwischenlandung“ widmet diesem Vergleich einen ganzen Raum und stellt Cockpits zweier vergleichbarer Flugzeuge westlicher und östlicher Provenienz direkt gegenüber. Zusammen mit Druckanzügen, Helmen und Uniformen erhalten die Besuchenden einen Eindruck davon, was es bedeutete, als Pilot ein solches Flugzeug zu steuern und welche Hilfsmittel dafür nötig waren. Dabei wirken die sowjetischen Modelle pragmatischer und funktionaler als die westlichen Gegenstücke, die eher in das Bild der hoch-technologisierten Luftfahrt passen.

Auch auf dem Außengelände des Museums sind diese Vergleiche möglich, ja sie bieten sich geradezu an: Die in langer Reihe aufgestellten Jagdflugzeuge lassen die Entwicklungen im Flugzeugbau von den Anfängen des Jet-Zeitalters bis zum Ende des Kalten Krieges deutlich werden. Während sich die frühen Düsenflugzeuge der 1950er Jahre noch stark ähneln, weisen die späteren Modelle teilweise gravierende Unterschiede auf. Auch Laien erkennen hier problemlos, dass fast gleichzeitiger Entwicklung zum Trotz ein schlankes Flugzeug wie die Lockheed F-104G „Starfighter“ ein anderes Einsatzprofil bedienen muss als die bullige McDonnell Douglas RF-4E „Phantom II“. Die Informationstafeln der Exponate sind in einem Farbensystem den Flugzeugtypen zugeordnet, das intuitiv zugänglich und zugleich übersichtlich ist. Das gesamte Spektrum der militärischen Luftfahrt von Abfangjägern über Transportflugzeuge bis hin zu Zielschleppern wird dadurch leicht verständlich und in den verschiedenen Abteilungen auf dem Außengelände erfahrbar.

Neben dieser übergeordneten Entwicklungsperspektive lässt das Museum die Betrachtung der konkreten deutschen Geschichte nicht aus. Im Gegensatz zum Außenbereich sind die Exponate der Dauerausstellung chronologisch im Uhrzeigersinn angeordnet und nicht nach Typ.

Um die Anfänge der militärischen Luftfahrt in Deutschland darzustellen, wählt der Ausstellungsteil „Falkenstein zieht in den Krieg“ einen personalisierten Ansatz: Der Reservist Peter Falkenstein aus Euskirchen zog im Sommer 1914 als Infanterist in den Krieg. Nach dem Einsatz an der Westfront war er zunächst 1916 als Lazarettschreiber im Einsatz, bevor er sich 1917 freiwillig zur Fliegertruppe meldete, Pilot eines sogenannten Großflugzeugs wurde und im letzten Kriegsjahr Einsätze hinter der französischen Front flog. Durch den gut dokumentierten Feldpostverkehr mit seiner Familie lässt sich anhand der Person Falkensteins nicht nur die Entwicklung der Luftfahrt nachvollziehen, sondern auch ein Einblick in die Gefühle und Ansichten eines daran beteiligten Soldaten gewinnen.

In der Präsentation der Zwischenkriegsjahre und des Zweiten Weltkriegs beschreitet das Museum neue Wege: In Zusammenarbeit mit Studierenden1 der Touro-University in Berlin werden die Exponate aus der Zeit des Nationalsozialismus in den Kontext von Verbrechen, Zwangsarbeit, Menschenversuchen und Todesopfern eingebettet. Dies geschieht mithilfe von zeitlich befristeten Interventionen, die in ihrer roten Farbe aus der Dauerausstellung hervorstechen. Neben der Bereitstellung von zusätzlichen Informationen verändern diese Eingriffe mitunter auch die Präsentationsform von Exponaten. So ist die Uniform Hermann Görings nur noch von der Seite zu betrachten, die Front der Vitrine informiert über die Verbrechen und den Judenhass des einstigen Trägers. Auch abseits der Sichtbarmachung von Verbrechen und Unmenschlichkeit wird bei den Interventionen der frische Input deutlich: Verstörende Bildinhalte werden erst nach einer Warnung sichtbar und die Texte verwenden geschlechtergerechte Formulierungen. Insgesamt gelingt es den Interventionen, sich in die Dauerausstellung einzufügen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Besuchenden in besonderer Weise auf sich zu ziehen.
Neben diesen Ergänzungen zeugen auch andere Ausstellungsbereiche vom Bewusstsein des Museums, die Verantwortung der deutschen Luftwaffe für ihr Handeln in Vergangenheit und Gegenwart angemessen darzustellen. Die deutsche Beteiligung am Luftangriff in Kunduz (Afghanistan) im Jahr 2009 ist ein eindrückliches Beispiel für die Folgen eines Auslandseinsatzes. Aber auch Verletzungen – körperliche wie psychische – als mögliche Nachwirkungen von Einsätzen bei Angehörigen der Bundeswehr werden thematisiert. Psychologische Betreuung und Nachsorge in der und für die Truppe war eine von vielen Entwicklungen, die in der Bundeswehr seit dem Ende des Kalten Krieges Einzug hielt. Die Auswirkungen des Dienstes an der Waffe auf die Menschen, die ihn versehen, werden in der Ausstellung Teil des Gesamtbildes.

Durch die unterschiedlichen Ausstellungsformen und Betrachtungsmöglichkeiten gelingt es dem Museum aber vor allem, viele Aspekte der militärischen Luftfahrt zu zeigen, die über das Technische hinausgehen: Gegründet als Flugschule begannen auch an diesem Ort Entwicklungen, die während des Zweiten Weltkriegs in Verbrechen gegen die Menschlichkeit endeten. Das Ausmaß dieser Verstrickung wird in der Dauerausstellung besonders deutlich.

Um Interessierten den Zugang zum Thema zu erleichtern, bietet das Museum unterschiedliche Besuchsformen an. Schulklassen können das weitläufige Flughafengelände mit Geocaching erschließen. Außerdem kann das Umfeld des ehemaligen Flughafens bei einer Radtour wortwörtlich erfahren werden. Gruppenführungen bieten die Möglichkeit, den Schwerpunkt des Besuchs auf bestimmte Zeiträume wie etwa den Ersten Weltkrieg zu legen. Technikfans können so im Rahmen einer Führung den Blick hinter die Kulissen im Depothangar 7 werfen. Dort sind jene Fluggeräte zu sehen, die aktuell nicht Teil der Ausstellungen sind.

Insgesamt bietet das MHM Flugplatz Berlin-Gatow ein breites Angebot für eine Vielzahl von Interessensgebieten. Die umfangreiche Sammlung der Bundeswehr ermöglicht es den Besuchenden, die Entwicklung der militärischen Luftfahrt vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart nachzuvollziehen. Aber auch die Geschichte des Standorts, der Kalte Krieg aus unterschiedlichen Perspektiven oder die Verbrechen der Luftwaffe im Dritten Reich werden hier angemessen dargestellt. Wer den Weg in den Berliner Westen nicht scheut, kann in Gatow mehr als einen Flugplatz finden.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Daniel R. Bonenkamp und Takuma Melber.


Zitierempfehlung: Kai Stottut, Von Luftfahrtgeschichte bis Bundeswehrsammlung. Ein Besuch im Flugplatz Berlin-Gatow, in: Portal Militärgeschichte, 03. April 2023, URL: https://portal-militaergeschichte.de/stottut_gatow, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.03.04.2023 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Ein gesonderter Beitrag über die Interventionen erscheint demnächst ebenfalls auf dem Portal Militärgeschichte.