Deutsche Streitkräfte zwischen politischer Beschränkung und militärischer Erwartung, 1918–1935 (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, 24.–25.5.2023)
Friederike Hartung/Dennis Werberg
Miszelle
Veröffentlicht am: 
30. November 2022

Die Geschichte der Reichswehr bildet einen neuen Schwerpunkt der Forschung am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw). Im Juni 2022 hat ein erster Workshop die bestehenden Desiderate zur Geschichte der Streitkräfte der ersten deutschen Republik verdeutlicht und mögliche Ansatzpunkte für zukünftige geschichtswissenschaftliche Untersuchungen aufgezeigt. In der Fortsetzung richtet das ZMSBw nun am 24./25. Mai 2023 einen Workshop zum Thema Reichswehr und Technik aus.

Neben ihrer zahlenmäßigen Vergrößerung bildete die Technisierung der Streitkräfte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts das Signum dieser militärgeschichtlichen Epoche. Mit dem Ersten Weltkrieg brach sich die Mechanisierung der organisierten Gewalt Bahn. In zunehmend technisierten Materialschlachten kamen Maschinengewehre, Artilleriegeschütze, Flugzeuge und Panzer zum Einsatz. Großkampfschiffe und Unterseeboote bestimmten den Krieg zur See. Eisenbahnen und Kraftfahrzeuge dienten der Bewegung und der Versorgung der Millionenheere. Telegrafie, Funk und Telefonie eröffneten neue Dimensionen der Kriegführung und der öffentlichen Rede darüber. Nach dem Ende des Weltkrieges waren sich alle Militärexperten schnell einig: ein möglicher Krieg in der Zukunft würde ein hochgradig technisierter Konflikt sein.

Für die Reichswehr lag jedoch genau darin die Herausforderung. Die Bestimmungen des Versailler Vertrages legten nämlich nicht nur Obergrenzen für die Truppenstärke von Heer und Marine fest. Sie schränkten das Militär auch stark in der materiellen, also technischen Rüstung ein. Neben dem Verbot einer Luftwaffe waren der Reichswehr die Herstellung und der Besitz von gepanzerten Kampffahrzeugen, schwerer Artillerie, Großkampfschiffen und U-Boote untersagt. Moderne Nachrichtenmittel und Messverfahren bei der Artillerie unterlagen ebenfalls Restriktionen. Somit war die technische Rüstung seit 1919 immer auch ein Argument in der Debatte um staatliche Souveränität.

Damit befanden sich die deutschen Streitkräfte in einem Spannungsfeld zwischen der rüstungstechnischen Begrenzung einerseits und der militärischen Notwendigkeit des Zugriffs auf moderne Technik und deren Weiterentwicklung andererseits. Doch war die Reichswehrführung von Anfang an bemüht, den Anschluss an die militärtechnische Innovation nicht zu verlieren. Zu diesem Zweck beobachtete sie die internationale Entwicklung intensiv und betrieb auch geheime Forschung- und Entwicklungsprojekte. Als der Versailler Vertrag 1933 formal aufgekündigt wurde, stand Deutschland in militärtechnischer Hinsicht den anderen europäischer Staaten kaum nach. Die materielle Hochrüstung der Wehrmacht in den Jahren 1935 bis 1939 ist ohne die in der Zeit der Republik geleisteten Vorarbeiten nicht vorstellbar.

Der Bereich Rüstung bildet eine Schnittstelle zwischen Politik, Wirtschaft, Technik und Militär. Dies ermöglicht nicht nur, sondern fordert eine multiperspektivische Herangehensweise. Der Workshop soll Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglichen, neuere Ansätze zur Erfassung dieser Schnittstelle für die Forschungen zur Reichswehr nutzbar zu machen. Neben möglichen Teildisziplinen wie die der Wissenschafts-, Medien-, Politik-, Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte eröffnet auch die Technikgeschichte neue Perspektiven: „The history of technology“, so der Historiker David Edgerton, „can help us rethink history“. Das gilt auch und vor allem für die Militärgeschichte. Technik soll dabei nicht nur aus der Perspektive des historisch interessierten Ingenieurs, sondern als Wechselspiel zwischen Militär, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft betrachtet werden. Neuere Zugänge streben danach, orthodoxe deterministische Ansätze zu überwinden und heben den Einfluss gesellschaftlicher Kontexte, sozialer Akteure, Strategien des Ersatzes und Kontingenzen auf die Technikentwicklung hervor. Technik erscheint hier als Ergebnis von Aushandlungsprozessen sozialer Gruppen.

Bislang liegen für die Zeit der Weimarer Republik Untersuchungen zu einzelnen Waffensystemen, den geheimen Rüstungsprojekten, zum Verhältnis von Staat, Militär und Industrie sowie zur Vergesellschaftung von Militärforschung (Wehrwissenschaften) vor. Eine umfassende Studie zum Themenkomplex „Reichswehr und Technik“ existiert bis dato jedoch nicht. Ein Workshop des ZMSBw („Technikwissen und Wissenstechniken im deutschen Militär seit 1890) wies bereits im April 2021 auf die Notwendigkeit der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Produzenten, Vermittlern (Mediatoren) und Nutzern von Technik, auf die Rolle der Militärakademien bei der technischen Weiterentwicklung, die Fachpublizistik und auf den Einfluss von im Krieg erlangter Technikerfahrung hin. Für den hier ausgeschriebenen Workshop gilt es, bestehende Narrative zu hinterfragen und das Verhältnis der Reichswehr zur Technik in einen größeren Zusammenhang, insbesondere auch in die gesamtgesellschaftliche Technisierungsprozesse der 1920er und 1930er Jahre, einzuordnen. Mögliche Fragestellungen sind dabei:

  • Welche militärischen Erfahrungen bot der Erste Weltkrieg für die Reichswehr? Inwiefern veränderten sich Zeit und Raum und das Kriegsbild durch Technik? 
  • Welche Rolle spielte Technik in den internationalen Rüstungskontrollverhandlungen? Welche Bemühungen der Messbarkeit technischer Parameter gab es („Kriegspotential“)?
  • Beförderten die militärischen Beschränkungen des Versailler Vertrages vielleicht ungewollt sogar die technische Weiterentwicklung? 
  • Wie gestaltete sich der Militärtechnikdiskurs in Deutschland zwischen 1918 und 1935 und wer waren seine Akteure?
  • Welchen Stellenwert nahm Militärtechnik in der Organisation und im Führungsdenken der Reichswehr ein? Wo und wie wirkten sich technische Rüstungsbeschränkungen auf die militärische Leistungsfähigkeit aus? Wie bedingten sich Technik(wissen) und Taktik(wissen) gegenseitig?
  • Wie hoch war der Stand der Technisierung in der Reichswehr im Verhältnis zur Technisierung der deutschen Gesellschaft in Stadt und Land insgesamt?
  • Welche Rolle spielte die Militärtechnik für die 1918 demobilisierte Wirtschaft und die Wissenschaftslandschaft? Wie gestalteten sich die Netzwerke zwischen Reichswehr, Industrie, Forschungsstätten und Universitäten?

 

Der Workshop findet am 24. und 25. Mai 2023 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam statt. Die Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.

Wir laden Interessierte ein, bis zum 1. Februar 2023 ein Kurzexposé (max. 500 Wörter) und biobibliografische Informationen für eine Projektvorstellung von 20 Minuten einzureichen. Auch Panelvorschläge sind möglich. Um die Zielführung der Diskussion zu verbessern, werden im Vorfeld der Veranstaltung Thesenpapiere angefordert.

Die Veranstalter übernehmen die Reisekosten (Fahrt und Unterkunft) in Anlehnung an das Bundesreisekostengesetz.

Kontakt:Dr. Dennis Werberg DennisWerberg@bundeswehr.org
Dr. Friederike Hartung FriederikeHartung@bundeswehr.org